Noch Windeln in der Schule – ist das normal?

Meiner Meinung nach liegt das definitiv NICHT an der Faulheit der Eltern oder Kinder.

So wie es leider im Artikel behauptet wird. Immer mehr Primarschulkinder tragen Windeln erschienen auf nau.ch

Mehrere Eltern und Kolleg:innen haben mir einen viralen gegangenen Artikel von Sonntag 11.06.23 zugesandt. 

Ich war mehr als schockiert von den Aussagen und übergriffigen Botschaften an die Leser:innen.

Der Artikel enthält eine unvollständige Recherche zu diesem sensiblen Thema.

Warum darf ich zum Thema „Windeln in der Schule“ meine Meinung sagen

Ich bin Physiotherapeutin und therapiere Kinder mit angeborenen und erworbenen Beckenbodenfunktionsstörungen. D.h. Sie verlieren unbeabsichtigt Stuhl und/oder Harn, haben eine chronische Erkrankung im Verdauungstrakt, einen künstlichen Darmausgang, eine Blase, die ein Eigenleben führt, wachen regelmäßig in einem nassen Bett auf und anderes. Keines davon macht das aus Spaß, Langeweile oder Faulheit. Die meisten bemerken die nassen oder vollen Hosen erst sehr spät oder wenn jemand anderes sie darauf anspricht.

Die Kinder, die zu mir kommen, sind fast alle im Schulalter. Manche von ihnen tragen am Tag oder in der Nacht eine Windel. Diese verwenden Sie nicht, weil ihre Eltern mit ihnen kein ausreichendes „Sauberkeitstraining oder Toilettentraining“ gemacht haben. Die Windel schützt sie davor, dass wenn ihre Hose oder das Bett nass wird, sie keine unangenehmen oder beschämenden Erlebnisse mit ihren Klassenkolleg:innen oder dem Lehrpersonal erfahren.

Sie tragen diese Windel nicht aus Faulheit!

Sie tragen diese Windel nicht, weil ihre Eltern eine „Erziehungsmaßnahme“ nicht getroffen haben!

Ihr Körper trixt sie fast immer aus oder meldet ihnen nicht, dass die Blase oder der Darm sich gleich entleeren wird.

Wenn sie husten, lachen, springen, schlafen oder gerade intensiv mit einer interessanten Sache beschäftigt sind, kommt Urin und/oder Stuhl einfach so heraus.

Ursachen warum Kinder eine Windel in der Schule tragen

In fast allen Fällen liegt eine körperliche Ursache vor, warum eine Stuhl-/Harnkontrolle nicht möglich ist. Häufig sind es eher mehrere Ursachen, die es dem Kind schwer machen, diese Fähigkeit zu erlernen. Sie reichen von einer Verstopfung, einer veränderten Wahrnehmung, einer Körperfehlhaltung bis zu einer Muskelschwäche oder einem Hormonmangel, um nur ein paar zu nennen.

Diese körperlichen Veränderungen sind weder den Eltern noch den Kindern bewusst.

Die Mehrheit wird mit „Abwarten“, das muss sich „auswachsen“ oder ähnlichem vertröstet oder abgespeist, statt wirkliche Unterstützung zu erfahren. Nun auch noch als Erziehungsversager:innen dargestellt zu werden, ist eine schockierende Botschaft in ihrem Artikel.

Eine Gruppe, die überwiegend im Stillen leidet oder keine Ahnung hat, wo sie Hilfe bekommt, hat besseres verdient!

Harninkontinenz ist ein Symptom für verschiedene Erkrankungen.

https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/s-2003-38412.pdf abgerufen am 15. Juni 2023

Wenn ein Kind über 5 Jahre seine Harnblase nicht kontrollieren kann, ist das eine auffällige Entwicklung. Es braucht eine medizinische Abklärung. Keinen Tadel an den Eltern für ihre „Faulheit“.

Unbeabsichtigter Harnverlust, wird Harninkontinenz genannt. Das kann organische, funktionelle oder psychische Ursachen haben. Das ist eine Erkrankung, keine Modeerscheinung.

In diesem Fall wird Harn nicht absichtlich an anderen Orten als dem WC abgegeben.

Als Vergleich: 35 % der Frauen sind von Harninkontinenz betroffen. Es ist die häufigste chronische Erkrankung. Viele von diesen Frauen verwenden Einlagen, Vorlagen oder Windeln. Sie sind nicht zu faul, um ihren Urin zu halten. Sie können ihren Urinverlust nicht verhindern. Sie vermeiden Sport, besuchen das WC vor dem Trampolinspringen oder verwenden bewusst eine Vorlage, wenn sie einen Ausflug machen.

Viele von ihnen hatten bereits als Schulkind Auffälligkeiten bei ihrem Toilettenverhalten.

Auch Männer sind von Harninkontinenz betroffen. Diese suchen sich aber sehr selten ärztlichen Rat oder therapeutische Unterstützung.

Meine Nachricht an die Lehrer:innen

Ja, ich kann verstehen, dass der Wechsel einer Windel nicht in der Berufsbeschreibung einer Lehrperson steht. Die Inklusion von Kindern, die auf Inkontinenz Produkte angewiesen sind, braucht aber dringend andere Schritte als das Anklagen eines falschen Schuldigen. Sie braucht Aufklärung, Offenheit, Bereitschaft, über ein Tabuthema zu sprechen, Verständnis, Wertschätzung, ernst nehmen und aufeinander zugehen statt, dass wir die Eltern und Kinder an den Pranger stellen.

Inklusion braucht Personal, das auf körperliche Pflege geschult ist. Einen Plan, wie man Schulkindern mit körperliche Herausforderungen die Teilhabe am Leben ermöglicht.

Die Inkontinenzprodukte sollen Situationen wie nasse Hosen vermeiden.

Sie sind ein Schutz vor den Mitschüler:innen und Lehrpersonen, die nicht respektvoll und achtsam auf eine Erkrankung reagieren.

In manchen Fällen sind sie eine Übergangslösung, in anderen werden sie ein lebenslanger Begleiter sein.

Als Schulkind auf Inkontinenz Produkte angewiesen zu sein, ist kein Spaziergang. Überlegen wir gemeinsam eine Infrastruktur, die einen menschenwürdigen Toilettenbesuch ermöglicht. Ich weiß, dass leider viele Schulgebäude keine geeigneten Toilettenräumlichkeiten haben, um sich nach einem Inkontinenzgeschehen selbständig sauberzumachen. Eine Wickelmöglichkeit für ein Schulkind durch eine zweite Person ist so gut wie nie in einem Gebäude eingeplant worden. Inklusion für das Grundbedürfnis Körperausscheidungen ist somit für viele erschwert.

Kinder wollen sauber werden!

Kinder haben einen natürlichen Drang zur Sauberkeitsautonomie. Sie wollen selbständig sein. Auch bei ihren Ausscheidungen.

Falls sie den Besuch oder die Verwendung einer Toilette verweigern, spricht man von Toilettenverweigerung. Auch das hat mehrere Ursachen, die nichts mit einer verpatzten Erziehung zu tun haben.

Z.B.: Angst vor der Toilette, Schmerzen beim Entleeren oder keinen Bewegungsplan, den Beckenboden zu entspannen, usw.

Toilettenverweigerung ist kein Erziehungsfehler. 

Mich erreichen Berichte von Schüler:innen, denen der WC-Besuch während dem Unterricht verweigert wird. Weil es ja vor X Minuten schon mal war. Weil es das Lernen soll, nur in der Pause zu gehen. Uvm. – Einer Reizblase oder überaktiven Blase ist es egal, wann der Unterricht startet oder endet. Wenn sie sich entleeren will, ist ein Aufschieben quasi unmöglich.

In manchen Schulen muss das Toilettenpapier vor dem WC-Besuch in einzelnen Blättern vom Schulwart abgeholt werden. – Welch eine Demütigung und Übergriff in einen persönlichen Lebensbereich.

In jeder Schulklasse einer Volksschule sitzt mindestens ein Kind, das von Harn- oder Stuhlinkontinenz betroffen ist.

Ja, das sind viele Kinder.

 Aber die wenigsten betroffenen Kinder wissen, das sie nicht alleine sind.

Ihre Eltern haben meistens alles versucht, damit es klappt. Waren bei X verschiedenen Stellen, und wissen oft nicht mehr weiter. Oft haben sie beim Geschwisterkind genau dasselbe gemacht, aber die Windel will beim betroffenen Kind einfach nicht weichen.

Eine Windel ist nicht die Ursache für Harn- oder Stuhlinkontinenz.

Ja, die Gesellschaft akzeptiert das Tragen von Windeln deutlich anders als vor 20 Jahren. Damals wurden Bettnässer mit extrem strengen und radikalen Erziehungsmaßnahmen behandelt. Heute weiß man, dass es verschiedenste körperliche Ursachen für die Blasenentleerung in der Nacht gibt. Keine davon geht von Faulheit der Eltern oder Kindern aus – zum Glück!

Es gibt Menschen mit einem Windelfetisch. Dieser wird aber nicht durch das Tragen einer Windel im Schulalter verursacht.

Begleitung statt autoritäre Erziehungsmaßnahmen beim Sauberwerden

Ja, die Gesellschaft hat sich verändert. Es finden deutlich weniger autoritäre Sauberkeitserziehungsprogramme statt. Es gibt den Zugang zur Windelfrei Methode, Ausscheidungskommunikation, Stoffwindeln werden wieder vermehrt verwendet usw.

Aber genau so hat sich unser Bewegungsverhalten, die Geburtsabläufe, die Verwendung von Baby-Hilfsmitteln und der Zugang zur Elternschaft verändert.

Kinder werden als vollwertige Menschen angesehen und nicht als ein Tonklumpen, der rein durch die Erziehung geformt wird. Persönlichkeiten werden anerkannt und das ist gut so.

Die Herausforderung von heutigen Eltern ist es zu lernen, ihren Kindern einen sicheren Rahmen zu geben, in dem sie sich erfahren dürfen.

Manchmal braucht es noch eine Windel, die Sicherheit gibt, dass die Kleidung nicht nass wird.

Kinder verbringen überwiegend mehr Zeit in der Krippe und dem Kindergarten. Für das Erlernen der Kontrolle der Ausscheidungsorgane braucht es deshalb die Zusammenarbeit von Eltern und Erzieher:innen.

Bücher, die ein unrealistisches Bild vermitteln, dass dieser Entwicklungsschritt in drei oder zehn Tagen erlernt werden kann, machen einen unnötigen Stress und schaffen falsche Erwartungen.

Es braucht das Achtgeben auf die Signale des Kindes und Babys, dass es ausscheiden möchte. Manche Kinder machen das bereits von Geburt an sehr klar, andere überhaupt nicht. Sie dürfen beim Verstehen ihrer Körpersignale unterstützt werden. Andere Kinder können für mehrere Jahre oder Monate ihre Ausscheidungen bereits kontrollieren, aber eine Verstopfung oder Verletzung am Körper macht es ihnen plötzlich wieder schwerer oder unmöglich.

Fazit – Kein Kind bleibt freiwillig länger in den Windeln als nötig.

Manchmal braucht es Therapie, Operationen oder Medikamente, damit die Windel gehen kann.

Manchmal wird sie für immer bleiben.

Lasst uns einen sicheren Rahmen schaffen. Für alle Kinder.

Egal ob mit sichtbarer oder unsichtbarer Windel.

Gebt denen eine Stimme, denen es gerade die Sprache verschlagen hat.

Du bist nicht schuld, dass dein Schulkind noch Windeln verwendet.

Dein Kind macht nicht absichtlich in die Hose oder das Bett.

Ich betreue überwiegend Schulkinder. Irgendwann ist die Windel keine Option mehr, mit der sich die betroffenen Kinder und Familien abfinden wollen. Sie haben Angst, gemobbt zu werden, vermeiden Übernachtungen bei Freunden oder bleiben daheim, statt beim Schulausflug mitzufahren.

In meinem Buch habe ich für Eltern 20 körperliche Ursachen und zahlreiche Tipps und Übungen gegen das Bettnässen zusammengefasst. 

„Trocken werden für Schulkinder – Hilfe für Eltern, deren Kinder bettnässen“ erklärt dir, warum dein Kind nicht zu faul zum Aufstehen ist, sondern die Blase es einfach austrixt. Zahlreiche Veränderungen am Körper tragen dazu bei. Diese kannst du positiv verändern.

Du musst nicht warten, ob sich das auswächst.

Offener Brief an die Redaktion von Nau.ch – gesendet am 15.Juni 2023

Der erwähnte Artikel erschien auch in weiteren Medien – Bild, Stern, Fokus online und SpiegelPanorama. Er hat leider sehr viele Menschen erreicht, die nun ein verzerrtes Bild zum Sauber und Trocken werden bei Kindern erhalten haben. Diese Redaktionen wurden am 17.06. per E-Mail kontaktiert.

Nachtrag am 22.06.23

Ich habe viele Nachrichten erhalten die meinen Brief befürworten oder stark kritisieren. Deshalb möchte ich hier einen Nachtrag ergänzen.

Edit: Ein Fehler bei Bild 3/8 – Unbeabsichtigter Harn-Stuhlverlust ist ein Symptom für einer Erkrankung. (falsch war Erkrankung)

Ich finde Ausscheidungskommunikation und Windelfrei super, wertvoll und wichtig. Ich sehe es aber nicht als einzigen Weg der Prävention von Harn- oder Stuhlinkontinenz.
Was ich nicht hinnehmen will ist eine Abwertung oder Verurteilung für Eltern, die dieses Prinzip für nicht für sich anwenden.
Ich weiß, dass es für manche Eltern nicht attraktiv genug ist um es längerfristig zu tun oder nicht mal vorstellbar wie sie es überhaupt umsetzen können. Jeder Grund ist berechtigt. Es steht mir nicht zu darüber zu urteilen ob er gerechtfertigt ist oder nicht. Es ist für mich nicht die Darstellung der Liebe und Achtung für dein Kind oder Vernachlässigung eines Bedürfnisses.

Diese Sichtweise und Verurteilung unterstütze ich nicht.

Egal welche From von Windeln du nutzt, ob du Ausscheidungskommunikation ablehnst oder es für dich das wichtigste überhaupt ist, ich gehe davon aus, dass du das Beste für dein Kind willst und dich liebevoll darum kümmerst.

Mit meinem Beitrag geht es nicht darum eine Meinung oder Ansicht gering zu schätzen.
Einige Aspekte von Windeln in der Schule hat der Artikel eindeutlich nicht beleuchtet. Mit seinen gewählten Aussagen hat er aber für mich eindeutig übergriffige Aussagen publik gemacht, die die Eltern meiner Patient:innen verletzt oder vor den Kopf gestoßen haben.

Faulheit – kann Ausdruck für ganz andere Dinge sein

In deinen Augen ist es Faulheit, aus der Sicht der betroffenen Person ist möglicherweise folgendes:

  • Effizienz
  • andere Priorität
  • andere Wahrnehmung – Interozeption
  • Hilflosigkeit
  • und viele Gründe

Ja Ausscheidungskommunikation unterstützt den Prozess des Erlernens wie und wo ein Kind auscheidet. Aber wir Eltern begleiten unser Kind durch so viel mehr Handlungen als „nur das Abhalten“. Wir sprechen über Ausscheidungen, wir bringen ihnen Wörter bei, wir zeigen wofür diese Begriffe stehen, wir unterstützten unser Kind dabei wie es darauf reagieren soll. Manche von euch Eltern tun vieles ab der Geburt, manche starten später.

Ich respektiere und achte beides. Du auch?


Du willst mit mir darüber reden?

Gerne, aber ich bitte dich um Respekt und Achtung.
Es könnte sein, dass wir nicht einer Meinung sind. Wie wirst du mir dann begegnen?

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